
Es war einmal, weit hinter den letzten Bergen, wo die Wälder raunten. Wo das Moos Geheimnisse barg. Lange bevor die goldenen Sonnenblumen auf Erden leuchteten, herrschte ein Kaiser über sein weites Reich. In jenen Tagen war sein Herz schwer vor Sorge. Seine Tochter ward schön wie eine Frühlingsblüte, doch jeden Freier wies sie ab.
Viele Prinzen kamen aus nahen und fernen Landen. Der eine war groß, der andere klein. Der eine hatte Haut so hell wie Schnee, doch der andere war dunkel wie die Erde. Manche waren reich, andere arm an Schätzen. Doch keiner wollte der Prinzessin so recht gefallen.
So begab es sich, dass sie nach langem Zureden des Kaisers wieder sprach: „Mir gefällt nur der Sohn der Sonne.“
Eines Tages geriet der Kaiser darüber in Zorn und rief mit lauter Stimme: „Also, geh und nimm den Sohn der Sonne zum Gemahl, mir aber komm nie mehr unter die Augen!“
Der Wind schwieg, und selbst die Zeit hielt den Atem an. Da zog die Prinzessin aus, dem Rufe ihres Herzens folgend. Sie wanderte ostwärts über Berg und Tal. Sie ging Wege, die kein Mensch je gegangen war. Sie schritt durch Wälder und Wüsten. So gelangte sie zu dem hohen Berg, auf dem die Sonne ihren Palast hatte.
Dort empfing sie eine alte Frau und fragte: „Was suchst du hier, Mädchen?“
„Ich möchte zum Sohn der Sonne“, erwiderte die Prinzessin und erzählte von der Verbannung durch ihren Vater. Die Alte sah sie lange an und fand Gefallen an ihr.
„Ich bin die Sonne“, sagte sie. „Meinen Sohn will ich dir zum Gemahl geben. Doch merke dir eines: Wenn du bei ihm bleiben willst, darfst du ihm niemals ins Gesicht schauen.“
Das versprach die Prinzessin, und ein Jahr lang hielt sie Wort. Sie lebte mit dem Sohn der Sonne, glücklich und zufrieden. Noch ehe sie sich’s versah, war nichts mehr, wie es gewesen. Leise wuchs eine Frage in ihrem Herzen. Warum durfte sie ihm nicht ins Gesicht sehen? War er nicht ihr Gemahl? Oft dachte sie still bei sich darüber nach.
Die Sonne blickte mitfühlend auf die Prinzessin. „Ich weiß wohl, was dich quält“, sprach sie sanft. „Stell ein Glas Wasser vor deinen Gemahl. Sieh in das Spiegelbild, das darin ruht. Doch merke dir wohl: Verweile nicht zu lange, sonst wird es ihm kundgetan, und wehe dir!“
Die Prinzessin tat, wie die Sonnenmutter ihr geheißen hatte. Als der Abend kam und ihr Gemahl heimkehrte, stellte sie ein Glas Wasser vor ihn und blickte hinein. Da zeigte sich sein Antlitz im klaren Wasser. Es war so schön, dass ihr das Herz stockte. Da vergaß sie die Warnung der Sonnenmutter. Sie verlor sich im Spiegelbild, bis ihr Gemahl es gewahr wurde.
Da rief er im Zorn: „Du hast mein Wort missachtet, darum sollst du nicht länger hier weilen!“
Da geschah es, dass er sie fortschickte aus seinem goldenen Palast. Weinend irrte die Prinzessin über Felder und Wälder, doch ihre Füße trugen sie nicht weit.
Da erbarmte sich die Sonne ihrer. Ein Strahl sank hernieder, und im selben Augenblick war das Mädchen verwandelt. Wo eben noch ihre Tränen auf die Erde fielen, stand nun eine hohe Sonnenblume mit einer großen, goldenen Blüte.
Und die Blüte wandte sich der Sonne zu, als wollte sie ihren Gemahl nie mehr aus den Augen lassen. Und so tut sie es bis auf diesen Tag.