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Wie der Flachs auf die Erde kam

Wie der Flachs auf die Erde kam

Es war einmal, weit im Norden, wo die Berge den Himmel küssen und Gipfel aus Schnee im Licht glühen. In einem stillen Tal, tief verborgen zwischen Tannen und Felsen, lebte einst ein Hirte mit seiner Frau.

Eines Sommertages zog er, wie an jedem Tag, mit seiner Herde hinauf zu den fernen Eisfeldern. Doch an diesem Tag trug sein Herz eine Sehnsucht, schwerer als je zuvor. Nichts wünschte er sich mehr, als das ewige Eis mit eigenen Augen zu sehen. Nur einmal. Nur für einen Augenblick sehen, wo der Schnee nicht schmilzt und die Zeit im Atem der Stille ruht.

Es begab sich, als die Sonne am höchsten stand. Da kam der Hirte zu einer stillen Lichtung. Saftig und grün wuchs dort das Gras, und alte Bäume standen da wie schweigende Wächter. Zwischen ihren Wurzeln standen zarte Kleeblüten. Sanft wogen ihre Äste und Blütenköpfe zwischen den Halmen, als wären sie nur für ihn erwacht.

Unter einem alten Baum, dessen Zweige leise flüsterten, schlug er sein Tuch aus. Er setzte sich nieder, wie er es alle Tage tat. Knüpfte sein Bündel auf, nahm das Brot zur Hand und trank aus dem Krug mit frischem Wasser. Der Wind war ihm dabei stets ein treuer Gefährte.

Doch an diesem Tage war ein neuer Klang in seinem Säuseln. Sanft fuhr er durch das Haar des Hirten, zupfte an seinem Mantel und raunte ihm leise zu. Er trug seine Gedanken fort, fort dorthin, wo das ewige Eis beginnt. Jenseits der Eisfelder, wo kein Hirte je gegangen war.

Neugierig fragte sich der Hirte, ob dort ein uraltes Geheimnis schlief, tief verborgen unter dem glühenden Schnee. Da erhob er sich, als habe ihn eine unsichtbare Hand berührt. Leise trat er aus der Lichtung. Und die Schafe blieben still zurück, als wüssten sie um das Geheimnis jenes Pfades.

Da geschah es, wie in einem Traum schritt der Hirte, ohne Eile, ohne Ziel. Der Wind trug ihn sanft bergauf, Schritt für Schritt, bis sich vor ihm eine Wand aus funkelndem Eis erhob.Eine Eiswand so hoch wie der Himmel und so glatt wie ein stiller See im Winter.

Kein Pfad führte weiter. Doch kaum war der Gedanke im Herzen des Hirten aufgekommen, da tat sich vor ihm ein Tor auf. Ein Tor zart und fein wie aus Spinnenfäden, durchsichtig wie Glas, doch stark und kühl wie der erste Frost des Winters. Das Tor gab den Blick frei auf einen Gang, dunkel und still, so tief wie die Mitternacht selbst.

Der Hirte trat ein mit leisem Schritt. Seine Füße berührten kaum den Boden. Mit jedem Schritt wich das Licht mehr und mehr, bis vor ihm ein schwacher Schimmer erwachte, zart wie ein ferner Stern am Himmel.

Da stand er nun in einer Halle, wie aus Kristall und Schnee geformt. Die Wände funkelten und glitzerten wie die gefrorenen Tränen des Winters, und inmitten dieser Halle stand eine strahlende Frau in silberweißem Gewand. Ihr Gewand fiel weich und hell wie der erste Schnee, und auf ihrem Haupt lag eine Krone, die strahlte wie tausend Diamanten. In ihren Händen hielt sie einen Strauß von Blumen, so blau wie die Sommerhimmel in den fernen Tagen.

Sanft lächelte sie den Hirten an, und ihre Stimme klang wie das leise Klingen von Glocken im Morgenwind:
  „Wähle, was dein Herz am liebsten begehrt, so wahr ich wandle unter Schnee und Sternen.“

Das Herz des Hirten begehrte nicht Gold, nicht Edelstein, nicht prunkvolle Schätze. Es hing an den himmelblauen Blumen, die so still und wunderbar vor ihm standen. Sanft bat er nur um diese Blumen. Und sogleich legte sich ein mildes Lächeln auf das Antlitz der Frau, die ihm ein kleines Säckchen reichte, schwer von goldenen Samen.
 „Streu sie wohl auf das Erdreich,“ sprach sie leise, „denn in diesen Körnern ruht ein Segen, der Leben und Wachstum bringt.“

Da erhob sich ein Donner, tief und fern, und zugleich flüsterte der Wind sanft durch die Hallen, als wollten Himmel und Erde dies Wunder bezeugen. Die Frau aber schwand dahin, wie ein Traum, und das Tor schloss sich leise, als wäre es nie gewesen. Doch der Hirte hielt das kostbare Geschenk noch fest in seiner Hand.

Zurück auf der Lichtung aber waren die Schafe verschwunden, die dort zuvor sanft und friedlich zwischen Blumen und Halmen grasten. Kein Tier war mehr zu sehen, und auch auf keinem Pfad ließ sich eine Spur entdecken. Stumm und voller Sorge blickte der Hirte sich um, dann machte er sich auf den Weg, die vertrauten Pfade entlang, zurück ins Tal.

Der Weg war still, und die Schatten der Bäume legten sich wie ein schützender Schleier über seine Schritte. So ging er schweigend und sorgenvoll, bis das Heim sich endlich am Ende des Pfades erhob. Still und schweigend, als hätte die Zeit selbst den Atem angehalten.

Dort wartete seine Frau, ihr Blick war schwer und voller Fragen, die Worte fanden keinen Eingang. Ein ganzes Jahr war vergangen, seit er gegangen war. Schweigend nahm der Hirte ihre Hand in die seine und begann leise zu erzählen von dem Wunder, das ihm begegnet war.

Als der Morgen dämmerte und das erste Licht die Schatten der Nacht vertrieb, traten der Hirte und seine Frau gemeinsam hinaus auf das kleine Feld bei ihrem Heim. Sie säten sorgsam die goldenen Samen, als wären sie das kostbarste Gut, das je auf Erden gesät wurde. Und bald schon sprossen zahllose himmelblaue Blumen, die sanft im Wind wiegten und die Luft mit ihrem Zauber erfüllten. Sie hegten und pflegten die Pflanzen mit großer Sorgfalt und Liebe, als würden sie einen Schatz bewahren, der das Leben selbst berührte.

Als die Erntezeit heranrückte, da sich die zarten Stängel goldgelb neigten und die himmelblauen Blüten längst verweht waren, da kehrte die Göttin zurück zu dem Hirten und seiner Frau. Diesmal trat sie nicht nur vor die Tür, sondern in ihr Heim, und mit sanfter Stimme lehrte sie ihm die Kunst der Ernte.

Der Frau des Hirten schenkte sie ein anderes, kostbares Wissen: das Spinnen und Weben. Mit liebevoller Geduld zeigte sie ihr, wie aus feinen Fasern starke Fäden entstehen, und wie diese Fäden sich zu Stoffen verweben lassen, die zart und haltbar zugleich sind, so wunderbar wie ein Traum aus Licht und Wind.

Die Frau des Hirten trug dieses Wissen weiter zu den Menschen, die es ehrfürchtig annahmen und in ihren Händen zu Schätzen verwandelten. So wurde der Flachs zu einer göttlichen Gabe, die von da an auf Erden wuchs und gedieh.

Und noch heute wacht Frau Holle über dieses Geschenk. In den stillen Nächten zieht sie durch die Webstuben, und wo Fleißige ihr Rädchen drehen, da spinnt sie einen Faden, der glänzt wie reines Gold. Doch wer faul gesponnen hat, dem verheddert sie die Fasern und lässt sein Werk zerfallen, so wie es sich gebührt.

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