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Die kleine Blätterfee und der Wind

Die kleine Blätterfee und der Wind

Es war einmal ein Wald, groß und alt, dessen Bäume höher ragten als die Türme einer Stadt. Dort lebte die kleine Blätterfee Elowen. Niemand wusste, woher sie gekommen war, und niemand kannte ihr Alter, denn sie war schon immer dort gewesen, so lange die Menschen sich erinnerten.

Wenn der Sommer verging und die Tage kürzer wurden, kam ihre Zeit. Dann flog sie von Baum zu Baum, von Ast zu Ast, und in ihrer Hand hielt sie einen kleinen Pinsel, feiner als ein Grashalm, mit dem sie die Blätter in Rot, Gelb und Gold malte.

So war es Jahr um Jahr. Wenn der Herbst kam, war der Wald nicht länger schlicht und still, sondern er glühte in tausend Farben, als trüge er ein königliches Festgewand.

Eines Morgens, da der Nebel noch zwischen den Stämmen hing, kam der Wind herauf. Er zog durch die Kronen, ließ sie rauschen und beugte die Zweige tief nieder. Zuerst war er sacht, doch bald wurde er stärker, und die Blätter zitterten an ihren Stielen.

„Halt, Wind!“, rief Elowen von der höchsten Spitze einer Eiche. „Die Blätter sind noch nicht bereit. Meine Arbeit ist nicht vollendet!“

Doch der Wind hörte nicht auf sie. Er fuhr mit sausendem Atem durch die Zweige, rüttelte an den Kronen und lachte, dass es durch den Wald gellte.

„Halt, Wind!“, rief sie wieder, aber der Wind blies nur lauter, und da begannen die ersten Blätter zu tanzen. Sie lösten sich von den Ästen, wirbelten in die Luft und flogen, wohin der Wind sie trug.

Da flog Elowen ihnen nach. Mit geschickten Händen fing sie ein Blatt nach dem anderen auf, tauchte den Pinsel in ihre Farben und bemalte sie in aller Eile. Doch je mehr sie färbte, desto mehr trieb der Wind vor sich her.

„Halt, Wind!“, rief sie zum dritten Mal. „Warte, bis ich fertig bin!“

Aber der Wind blies weiter, lachte und tobte, und bald war der ganze Wald voller wirbelnder Blätter.

Da wurde Elowen bang ums Herz. Sie sah, wie viele Blätter schon fortgeweht wurden, ohne dass sie ihre Hand darüber geführt hatte. Sie fürchtete, ihre Arbeit würde verloren sein, ehe sie begonnen hatte. Der Wald würde kahl sein, ehe er sein Festgewand trug und ihre Arbeit sei umsonst. Denn was nützten die schönsten Farben, wenn kein Auge sie mehr sah?

Die kleine Fee, so schnell sie konnte. Stund um Stund flog sie durch die Zweige, und wenn der Wind eine Lücke ließ, bemalte sie ganze Äste auf einmal. Bald leuchteten die Bäume in Rot und Gold, und die Sonne, die über die Wipfel wanderte, schien mit hellem Glanz auf ihr Werk.

Der Wind aber fuhr weiter durch die Äste, und immer noch lösten sich Blätter und tanzten im Sturm. Die kleine Fee malte und flog, griff und strich, bis ihre Hände müde wurden und ihr Atem ging wie ein Seufzer. Doch sie hielt stand.

Da endlich, als der Tag sich neigte und das Licht sich rötete, sah der Wind, wie schön die Bäume nun leuchteten. Er wurde stiller, seine Böen fuhren sanfter, und er lauschte, wie die Blätter im Abendlicht rauschten.

Elowen sank auf einem Zweig nieder. Sie ward müde vom Tun geworden. Sie hatte keinen Zweig unberührt gelassen, kein Blatt, das nicht in Gold und Rot glühte.

Da sprach der Wind: „Ich habe nicht gewusst, dass deine Arbeit so wichtig ist. Ich wollte nur die Lüfte bewegen, wie es meine Natur ist.“

Elowen nickte und sagte: „Und ich wollte nur, dass der Wald sein Festgewand trägt, ehe du ihn leerfegst. Denn was nützen die Farben, wenn niemand sie sieht?“

Da wurde der Wind still. Er sah, wie müde sie war, und doch wie schön der Wald unter ihrer Hand geworden war.

Von diesem Tage an hielten sie Frieden. Wenn der Herbst kam, wehte der Wind die Blätter von den Zweigen, aber er wartete, bis die kleine Fee ihre Farben über sie gelegt hatte.

Und wer heute im Herbst durch den Wald geht, wenn die Tage kürzer werden und die Sonne rot durch die Zweige scheint, der mag es noch sehen: Die Blätter tanzen im Winde, und sie leuchten, als habe eine unsichtbare Hand sie bemalt. Dann rauscht es in den Kronen, als flüsterten Wind und Fee miteinander, und es ist, als ginge ihre alte Arbeit dort oben noch immer weiter, Jahr um Jahr, Herbst um Herbst, seit jener fernen Zeit bis auf den heutigen Tag.

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