
Niemand weiß mehr, wann es geschehen ist; doch die Alten erzählen von einer Zeit, da die Götter allmächtig waren. In jener fernen Zeit gab es weder Schranken noch Maß. Die Wälder flüsterten leise, und das Moos barg in seinem grünen Schweigen uralte Geschichten.
Damals stand der Beifuß nicht bescheiden am Wegesrand, unbeachtet und vergessen. Nein, er wuchs aufrecht an den Rändern der Welt, wo Wind und Licht sich berührten. Seine Blätter glänzten silbern im ersten Schein des Morgens, und jedes einzelne trug das Zeichen der Kraft. Wer sich ihm näherte, tat es mit Ehrfurcht; wer ihn schnitt, sprach zuvor ein Wort, denn seine Macht war nicht verborgen. Selbst Götter und Geister hielten Zwiesprache mit ihm.
Zur gleichen Zeit wandelte Thor auf Erden, fern vom Dröhnen seines Wagens und dem Glanze Asgards. Sein Herz sehnte sich nach Ruhe. So ging er durch Wälder und Felder, bis er den stolzen Beifuß erblickte, der unbewegt und voller Stärke stand wie ein schweigsamer Wächter zwischen Himmel und Erde.
Der Gott blieb stehen und sah lange auf das Kraut, als wüsste es um sich selbst. Er sprach: „Dich hat der gleiche Hauch berührt wie mich. Trittst du zu mir, so will ich dich nicht vergessen, und kein Wesen soll es tun.“
Da neigte der Beifuß sein silbernes Haupt, nicht aus Furcht, sondern aus tiefem Verstehen. Die Erde schwieg, als Wurzel und Wille sich fanden. Er willigte ein, denn auch er hoffte großen Gewinn. Fortan sollte man ihn weithin erkennen, und niemand sollte je an seiner Kraft zweifeln. Ein Licht erschien, seltsam und fremd, wie von einer anderen Welt herabgesandt. So gab sich der Beifuß dem Thor hin.
Der Gott begann sogleich, einen Gürtel aus seinen Blättern zu flechten. Der Gürtel, wurde bald ein Schatz von großer Macht. Von nun an schenkte er seinem Träger unermessliche Stärke, wie niemand sie zuvor gekannt.
So geschah es das diese Kraft Unheil brachte. Die Götter, sonst voll Freude und Weisheit, gerieten in Streit und Zwist. Neid, Missgunst und Eifersucht wuchsen wie ein Sturm, der kein Ende kannte. Die Ordnung der Welten geriet ins Wanken. Das Gleichgewicht zerbrach. Der Wind verstummte, und selbst die Zeit hielt den Atem an.
Da erhob sich die Stimme des höchsten Schöpfers und sprach: „Ihr seid nicht reif, die Kraft zu tragen, die euch anvertraut ward. Fortan soll ein jedes Volk seine eigenen Götter kennen. Geteilt und begrenzt sei ihre Macht, auf dass niemand mehr das Gleichgewicht der Welten zerbreche.“
Und zum Beifuß sprach er: „Ich weihe dich der Göttin Artemis, auf dass du Weiblichkeit behütest, die Geburt begleitest, die Räume reinigst und die Seelen stärkst.“
So wurde der Beifuß vom König der Pflanzen zum verborgenen Wächter der Schwellen.
Nicht in prächtigen Gärten wächst er, nicht im tiefen Wald unter hohen Wipfeln, sondern an Wegrändern, wo der Staub der Welt sich sammelt. Er wurzelt dort, wo das Draußen dem Drinnen begegnet, wo die Menschen achtlos vorübergehen und die Tiere noch wittern, was verborgen liegt.
Wo Altes vergeht, da reinigt er die Schwelle; wo Neues geboren wird, da spendet er Kraft dem Leben; er schützt, wo jemand Abschied nimmt und übertritt. Darum legten ihn die Weisen einst in Schuhsohlen und Schwellenrituale. Sie verbrannten ihn in dunklen Nächten, wenn das Haus Unruhe kannte, und kochten ihn als Tee, wenn Leben im Leibe erwachte. Denn der Beifuß kennt die Wege der Wandlung, und mit ihm an der Seite erschrickt der Mensch nicht, wenn die Welt sich wendet.
Doch wer ihn heute ein Unkraut schilt, dem bleibt sein Lied verborgen. Wer achtlos an ihm vorübergeht, wird nichts vernehmen. Denn der Beifuß zeigt sich nur dem, der innehält und lauscht, wenn ein Blatt im Winde spricht, der noch weiß, dass auch das Geringe heilig ist. Und zieht der Morgen in feuchtem Glanz über die Wiesen, so mag es geschehen, dass er dort steht, unscheinbar und doch silbern wie alter Rauch.
Dann neigt er leise sein Haupt und flüstert, wie einst: „Ich verharre im Schatten der Wege, auf dass du mich erkennst, wenn die Zeit gekommen ist.“