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Jobik und das Irrkraut

Jobik und das Irrkraut

Niemand weiß mehr, wann es geschehen ist. Die Alten im Dorfe erzählen es sich, wenn das Herdfeuer leise knistert und die Schatten sich lang ziehen. Es ist die Geschichte von Jobik.

Eines Morgens, da der Himmel noch silberblau stand und der Tau wie kühle Tränen auf den Gräsern lag, erhob sich Jobik von seinem Lager. Die Vögel sangen in den Hecken, und die Wiesen dufteten nach Heu und frischem Morgentau. An jenem Tage wollte er das Dorf verlassen, das ihm seit Kindertagen Heimat war. Er wollte seinen Bruder besuchen, den er lange, allzu lange nicht mehr gesehen hatte.

Mit frohem Sinn und leichtem Herzen trat er auf den Pfad, der durch den alten Wald führte. Diesen Weg kannte er wohl; er war ihm vertraut von Kindesbeinen an, denn oft hatte er ihn durchschritten bei Regen und Sonnenschein, im Frühnebel und zur Dämmerstund’.

Ohne es zu wissen, berührte seine Fußsohle ein unscheinbares Kraut, verborgen am Wegrand. Ein Kraut, das in alten Legenden nur geflüstert wird und heute kaum mehr einer kennt. Man nennt es das Irrkraut.

Es wächst verborgen zwischen Wurzeln und Moos, dort, wo das Auge scheu wird und der Sinn sich hebt zu stillen Fragen. Sein Name ward vergessen, seine Kunde verlor sich im Wind. Und doch verfehlt es niemals seine Wirkung.

Das Irrkraut steht an jener Schwelle, wo die Welt der Menschen sich berührt mit dem Reich der Feen und der alten Geister. Manch einer sagt, es wurzle im Dämmergrund, wo kein Sonnenstrahl den Boden trifft und die Zeit stillsteht.

Wer es betritt, wandelt fortan unbekannten Pfaden. Nicht weil sich die Pfade wenden, sondern weil das Herz aus seinem Takte gerät. So werden jene, die hier schreiten, fremd dem, was war, und nah dem, was niemand sieht.

So geschah es auch Jobik. Stunde um Stunde schritt er voran, immer tiefer in das Land der stillen Schatten. Die Bäume standen stumm. Kein Blatt regte sich. Kein Vogel sang. Die Farben schwanden, der Glanz verlor sich. Der Himmel blieb hell, doch das Licht trug keinen Trost.

Was eben noch vertraut war, ward ihm fremd. Was nahe lag, entwand sich. Der Weg blieb derselbe, doch das Gehen ward ein Irren. Es war, als sähe ihn die Welt noch immer, doch er selbst vermochte sie nicht mehr zu erkennen.

Wie lange Jobik wanderte, vermochte keiner zu sagen. Die Schatten rückten näher, das Licht blieb starr. Kein Ton begleitete ihn, nur das leise Rascheln seiner Schritte auf welkem Laub.

Da wich das Gezweig, und vor ihm lag eine Lichtung, still und verborgen wie ein vergessenes Lied. Am Rand stand ein Haus, klein und niedrig, mit Dach aus alten Schindeln, vom Wind gezeichnet und mit Moos bedeckt, als habe es viele Jahre geschwiegen.

Jobik blieb stehen. Sein Herz schlug schwer. Er wusste nicht, wie er an diesen Ort gelangt war. Kein Weg hatte ihn hierher geführt, kein Zeichen wies ihn dorthin. Und doch stand er nun da, als sei er erwartet worden.

Die Tür öffnete sich. Ein Mann trat hervor, mit Haar wie Asche und Augen wie ein ferner See. In seinem Blick lag eine Erinnerung, die der Wind gebracht, und eine Frage, die niemand auszusprechen wagt.

„Verzeiht,“ sprach Jobik, „kennt Ihr meinen Bruder? Ich suche ihn seit frühem Morgen.“

Der Mann sah ihn lang an. Dann sprach er leise: „Jobik, ich bin dein Bruder. Du stehst in meinem Garten.“

Doch Jobik erkannte ihn nicht. Nicht das Antlitz, nicht das Haus, nicht den Ort. Alles war wie durch Nebel.

Er trat einen Schritt zurück, als sei das Gesagte ein Trug. Dann blieb er stehen. Vielleicht war es Müdigkeit, vielleicht ein leiser Ruf aus der Tiefe seiner Seele. Er bückte sich und zog die Schuhe aus.

Seine nackten Füße berührten die kühle Erde, die nach Wurzeln und altem Leben roch. Die Feuchte benetzte seine Sohlen. Da, in jenem stillen Augenblick, fiel alles an seinen Platz.

Da kehrte die Erinnerung zurück – an den Garten, die Tage der Kindheit, die Stimme der Mutter im leisen Wind, an die Lieder, die einst erklangen.

Ein helles Lachen stieg in ihm auf, durchdringend und klar. Dann kamen ihm die Tränen, wie Regen nach langem Dürrefeld. Und er umarmte seinen Bruder, als hätte er nicht nur ihn, sondern sich selbst wiedergefunden.

Seither heißt es im Dorfe: Wer sich verliert, der ziehe die Schuhe aus. Denn das Irrkraut verliert seine Macht, wenn nackte Füße die Erde küssen und die Seele sich erinnert, wer sie ist.

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